Erzählungen und Romane - Ver-dichtungen

Direkt zum Seiteninhalt

Erzählungen und Romane

Literarische Texte

Leseproben

  
Scheherazade – Mon Amour

Erzählung
von
Wolf Döhner



Wie alles anfing

Woran liegt es, dass mich Berlin immer wieder fasziniert? Ich bin doch stets nur Zaungast in dieser Stadt – anders als mein Cousin Uwe.
Er lebt förmlich auf, seit er wieder in Berlin ist. Die Trennung von Carola, seiner langjährigen Freundin in München hat ihn zunächst in Depressionen gestürzt, erzählte er mir. Aber jetzt fühlt er sich befreit. Ein ungeheurer Druck ist von ihm gefallen. Er hat spontan alle Brücken zu München abgebrochen und ist mit fliegenden Fahnen zurück nach Berlin gezogen – ohne zu wissen, was ihn erwartet. Aber er hat vom ersten Augenblick, in dem er wieder in der Stadt war, um nach einer Wohnung zu suchen, gespürt, dass er hierher gehört.

Biografien sind unerbittlich, auch und gerade, wenn die Beteiligten selber sie lange oder sogar nie verstehen. Für Uwe ist Berlin tatsächlich so etwas wie eine Heimatstadt. Hier hatte er die wichtigsten Zeiten seiner Jugend verbracht. Hier hatte er später studiert, die Studentenunruhen 69 miterlebt und im SDS agitiert.
Erst kürzlich standen wir aus Anlass der Beerdigung meines Vaters auf dem Dahlemer Dorffriedhof und hatten dann später noch einen Besuch bei Gollwitzer und Dutschke gemacht, die auch dort ruhen.
Am Bahnhof hatte ich mir ein Buch von Cees Noteboom gekauft: Allerseelen. Der Feiertag lag zwar schon mehr als einen Monat zurück. Und in Berlin kennt man nicht einmal den Begriff, geschweige denn den folgenden Feiertag Allerheiligen. Aber der Klappentext sprach mich an. Nicht zuletzt weil die Handlung in Berlin spielt.

Uwe hatte mich vom Bahnhof Zoo abgeholt. Ich war von Osten gekommen. Der ICE von München nach Hamburg über Berlin, durch die ehemaligen Zonenrandgebiete dann bei Ludwigstadt durch das Schiefergebirge und über die Thüringische Grenze nach Probstzella. Es war erst 14 Jahre her, dass diese Gegend aus einem langen Dornröschenschlaf der neueren deutschen Geschichte erweckt wurde. Und wenn man bei der Fahrt durch das enge Tal bis hin nach Hockeroda an der Saale und dann weiter nach Saalfeld fährt, könnte man fast vergessen, im ICE 1518 nach Berlin zu sitzen. Geradezu gemächlich und irgendwie unwirklich schlängelt sich der Zug durch die Landschaft. Die Zeit scheint still zu stehen. Und manchmal huschen die baufälligen Schemen der Vergangenheit am Fenster vorbei und man ahnt, dass es kein Dornröschenschlaf, sondern eher ein Albtraum war, aus dem damals ein Teil Deutschlands erwachte.

Am frühen Abend erreichten wir dann das Weichbild Berlins. Ganz selbstverständlich fuhren wir in diese Metropole ein. Ich dachte an die Zeit, in der eine Zugreise nach Berlin fast ein Abenteuer war. Wir passierten Schönefeld und später den berüchtigten Bahnhof Friedrichstraße, bevor wir am Hauptbahnhof ankamen
„Na, altes Haus, wie geht´s und wie war die Fahrt?“ begrüßte Uwe mich.
„Ich verbitte mir Anzüglichkeiten und Fragen zu meinem Befinden, bevor ich nicht ordentlich gegessen habe.“ Ich umarmte ihn und fügte hinzu. „Im Übrigen bin ich lediglich zwei Jahre älter als du, altes Haus.“
Wir verstanden uns wie immer sofort. Uwe hatte natürlich Plätze in einem Lokal nahe seiner Wohnung reserviert, wo wir dann ausgiebig speisten und uns austauschten.
Nach dem Essen zündete Uwe sich eine Zigarette an. Wir aßen gemeinsam fast ausschließlich in Lokalen, wo das Rauchen erlaubt war. Denn längere Zeit ohne Zigarette war für ihn ein Ding der Unmöglichkeit. Und so war eine seiner sich ständig wiederholenden Tätigkeiten das Drehen von Zigaretten, um seinen Vorrat aufzustocken. Uwe hielt mir sein voll gefülltes Zigarettenetui entgegen.
„Ich habe für dich bereits mit gebröselt,“ meinte er.
„Hast du die Nachrichten heute schon gehört? Saddam Hussein soll sich in der Nähe seines Heimatortes versteckt halten.“
„Nein, aber egal wo er sich gerade aufhält, es wird Zeit, dass man den Despoten fängt.“
„Stimmt, er ist ein Verbrecher. Allerdings war er das lange mit ausdrücklicher Duldung des Westens.“
„Moral ist in der Politik eine Hure. Das war schon immer so, ob in der großen Politik oder in der kleinen wie zum Beispiel in Berlin.“
Und nun wurden die neueren oder älteren politischen Skandale oder Skandälchen Berlins genussvoll durchgenommen und mit mehr oder weniger geistreichen Kommentaren versehen.
Das war das Prozedere, wenn wir uns trafen.

Nun saß ich wieder im Zug südwärts. Was fasziniert mich an Berlin? Ich wollte nicht ständig in der Stadt leben. Nach einer überschaubaren Zeit zieht es mich zurück in die Beschaulichkeit meiner schwäbischen Kleinstadt, wohl wissend, dass ich von dort immer wieder eine Auszeit benötige, sei es in Berlin oder in einer anderen Großstadt.
Es sind natürlich nur am Rande die kleinen oder großen Geschichten der Stadt, die einen an Berlin faszinieren. Es ist weit mehr. Arthur, der Protagonist des Buches von Noteboom wandert bei Schnee durch die neu vereinte Stadt. Er kennt sie schon seit vielen Jahren. Auf beiden Seiten war er als holländischer Kameramann tätig. Ihn begeistert vielleicht am ehesten das Unvollständige dieser Stadt, dieses Kommen und Gehen, die Prozesse. In unzähligen, scheinbar belanglosen, kurzen oder längeren Filmszenen sammelt er Eindrücke, die die Vergänglichkeit und das Werden dokumentieren.

Der Zug passierte die pottebene Mark und ihre nicht endenden Birkenwälder. Birken sind Pionierpflanzen. Sie bereiten Künftiges vor, indem sie dem Boden Halt geben, Halt um nicht davon geweht zu werden vom Wetter oder dem Wind der Zeit, Halt, um kommenden Generationen von Pflanzen ein Zuhause zu geben. Denn erst Vergangenes kann den Humus bilden, auf dem Neues wächst.

Was hat Berlin mit den Birken zu tun, dachte ich und beantwortete mir im gleichen Atemzug selber die Frage: Die Stadt strotzt geradezu vor Vergangenheit. Aber dazwischen wächst unermüdlich Neues. Manches kann man schon sehen, wie den Potsdamer Platz, der nach seiner Befreiung von den Wundmalen der Trennung zwar neue Wunden zu verkraften hat und nicht wiederzuerkennen ist. Man muss ihn jetzt nicht mögen. Aber er ist Ausdruck von Lebenswillen und Neubeginn. Und vieles Andere erstrahlt in neuem Glanz. Berlin ist ein urbaner Wald von unglaublicher Vielfalt und Schönheit.

Aus meinen Gedanken wurde ich jäh in die Wirklichkeit um mich zurückgerissen. Im Speisewagen wurde es laut. Ein Gast hatte keinen Fahrschein und auch keinen gültigen Ausweis. Der Schaffner kündigte ihm gegen seinen lautstarken Widerstand an, dass er in Naumburg den Zug zu verlassen hätte. „Ich habe hier Hausrecht", meinte er. „Notfalls muss ich die Polizei benachrichtigen."
Es war der gleiche Gast, vor dem mich vorhin der Kellner gewarnt hatte, als ich mich an einen leeren Tisch setzen wollte.
"Setzen Sie sich an einen anderen Tisch", sagte er, ohne dass ich ihn sogleich verstand. " Hier sitzt noch ein Gast, der gleich wiederkommt."
Er machte eine unmissverständliche Kopfbewegung, die pure Verachtung ausdrückte und zeigte auf ein halbleeres Bierglas, das noch auf dem Tisch stand.
Etwas verwirrt begab ich mich zu einem anderen Tisch, an dem schon eine junge Frau saß und las.
Der Gast kam dann tatsächlich kurze Zeit später zurück. Ein großer, braun gebrannter Kerl im Trainingsanzug. Die schwarzen Stummelhaare standen ihm wie eine Bürste vom Kopf. Seine tief liegenden Augen stachen unter starken Augenbrauen hervor, sodass er auf den ersten Eindruck eher furchteinflößend erschien,
Aber als er dann zu meinem Tisch kam und die junge Frau ansprach, war seine Sprache leise und fast schüchtern. Sie verstand ihn zunächst genauso wenig wie ich. Dann wurde klar, dass er ihr etwas zu Essen bestellen wollte.
Sie bedankte sich aber und bat gleichzeitig um Entschuldigung, dass sie hier säße und lese.
"Sei mir nicht böse, aber ich will jetzt gerade lesen."
Sie waren also vertraut – wie vertraut war nicht zu erfahren.

Später ging ich zu meinem Platz im Abteil, um etwas zum Schreiben zu holen. Als ich wiederkam, war der Platz mir gegenüber leer. Der Bürstenkopf saß alleine weiter vor mir, als dann kurz vor der nächsten Station die Szene mit dem Schaffner einsetzte.
Wo mochte die junge Frau sein? Welches Schicksal mochte beide miteinander verbinden?
Während ich noch darüber nachdachte, fuhr der Zug wieder an. Draußen lief der Trainingsanzug auf dem Bahnsteig dem Zug mit nach vorne gebeugtem Oberkörper hinterher. Seine Gestalt erhielt dadurch fast etwas Groteskes, so als fiele dieser große Körper beim nächsten Schritt unweigerlich vornüber zur Erde. Aber er fiel nicht. Er wirkte zornig und ratlos. Dann entschwand er meinem Gesichtsfeld.
So enden Geschichten, dachte ich. Oder sie fangen so an.

Ich erhob mich, um wieder zu meinem Abteil zu gehen. Im Aufstehen bemerkte ich auf dem Sitz mir gegenüber eine kleine, runde Dose aus Messing, deren Deckel eine emaillierte, sich kreuzende Doppel-Helix zierte. Auf diesem Platz hatte vor kurzem noch die Frau mit dem Buch gesessen.
Ich nahm das Kleinod auf und öffnete es, obwohl ich mir zunächst nicht sicher war, ob es nicht besser wäre, es liegen zu lassen oder dem Schaffner ungeöffnet als Fundstück zu übergeben. Obwohl....
Ja, ich war neugierig oder soll ich besser sagen interessiert? Vermutlich hätte sogar fast jeder so gehandelt wie ich. Ein Fundstück muss man zunächst untersuchen und sei es nur um Hinweise auf den Eigentümer zu bekommen. In dem Döschen lag ein winziges Bild des Mannes, den ich eben erst so verzweifelt auf dem Bahnsteig hatte hin und herlaufen sehen. Ich erkannte ihn sofort an seiner vorne übergebeugten Haltung und seinen buschigen Augenbrauen auch wenn er auf dem Bild in einem modischen Anzug gekleidet war, volles, schwarzes Kopfhaar trug und in fast lässiger Haltung auf der Promenade irgendeines touristischen Ortes zu sehen war. Er wirkte auf dem Bild keineswegs mehr so befremdlich, wie ich ihn hier im Zug erlebt hatte. Das Lächeln in seinem Gesicht nahm zudem den Augen den furchterregenden Ausdruck. Kurzum, mir lächelte eine gänzlich andere, durchaus sympathische Person zu. Seinen rechten Arm hatte er zur Seite ausgestreckt so, als habe er jemanden an der Hand. Doch dort fehlte dem Bild die weitere Information, denn offensichtlich war hier etwas abgeschnitten worden, so dass es aussah, als wäre die Hand amputiert worden.
Anscheinend gehörte das Fundstück der Unbekannten oder vielleicht sogar dem Unbekannten. Unter dem Bild lag zusammengefaltet ein Zettel: „Ein Stern ist uns in unseren Schoß gefallen. In Liebe K“, stand da mit großen, markanten Buchstaben geschrieben. Ich vermutete, dass sie von dem Mann stammten, dessen Äußeres so wenig zu seiner Sprache und zu der Schrift zu passen schien.
Das Zitat erkannte ich sofort als eines von Lasker Schüler. Viel wichtiger war jedoch, dass jetzt mein Jagdinstinkt geweckt war. Die Frau mit dem Buch musste noch in dem Zug sein, denn anders konnte ich das Verhalten des Mannes auf dem Bahnsteig in Naumburg nicht deuten. Also galt es nur, sie zu finden. Allerdings war mir klar, dass das Finden erst ein Anfang sein würde – von was wusste ich nicht. Aber ich war neugierig und ich merkte, wie meine Fantasie wieder auf Touren kam. Eine Fantasie, die mich in den letzten Jahren fast vollständig verlassen zu haben schien. Mein letztes  Buch, das ich veröffentlichen konnte, lag schon fünf Jahre zurück. In der Zwischenzeit hatte ich mich notdürftig von dessen Erträgen und Gelegenheitsarbeiten über Wasser halten können.

Es war in der Tat nicht schwer, die Frau zu finden. Ich schlenderte suchend zweimal durch den gesamten Zug und dann sah ich sie. Sie saß in einem leeren Abteil und war in ihr Buch vertieft.
Ein fragendes Lächeln des Erkennens begegnete mir, als ich in das Abteil trat, bevor sie sich wieder ihrer Lektüre zuwendete.
Wie sollte ich mich an sie wenden? Sie war vollständig in das Buch vertieft. Es schien mir einfach ungehörig, sie dabei zu stören. Ich betrachtete sie eingehend. Sie mochte Mitte oder Ende dreißig sein, also gut zwanzig Jahre jünger als ich. Ihr dunkler Teint war vermutlich der Rest einer Urlaubsbräune. Er passte jedenfalls gut zu dem schwarzen Pferdeschwanz, der mit einem weißen Seidentuch zusammengebunden leicht hin und herwippte, wenn sie die Seiten blätterte. Ihre randlose Brille gab ihr etwas Lehrerhaftes. Aber das, was ich von den Augen erkennen konnte, zeugte von Interesse und Spaß am Lesen. Immer wieder huschte ein leichtes Lächeln über ihr Gesicht, das in seltsamem Gegensatz erschien zu dem strengen, fast melancholischen Zug um ihren Mund.
Nach einer Weile hob sie den Kopf.
„Warum fixieren Sie mich so eingehen? Ist etwas nicht in Ordnung mit mir?“
Sie schaute mich mit braunen Augen neugierig an und ich merkte wie ich rot wurde.
„Verzeihen Sie, dass Sie sich durch mich offensichtlich gestört fühlen. Eigentlich wollte ich das gerade vermeiden. Auf der anderen Seite muss ich Sie wohl stören, weil ich vermute, dass Sie das hier im Speisewagen liegen gelassen haben.“
Und damit hielt ich ihr das Döschen entgegen.
Eine steile Falte bildete sich zwischen ihren Augenbrauen, als sie es fast zögernd entgegennahm. Ohne es zu öffnen legte sie es neben sich, murmelte einen kurzen Dank und griff wieder zu ihrem Buch. Doch dann legte sie es wieder hin und sah mich mit einem fast spöttischen Lächeln an.
„Sie haben natürlich das Döschen geöffnet und kennen ihren Inhalt. Sie haben den Mann auf dem Bild erkannt und nun sind sie neugierig, wie das Bild und das Zitat zu der Wirklichkeit passen.“
Ich starrte sie mit offenem Mund an. Eine solche Direktheit hatte ich nicht erwartet. Sie aber stieß ein kleines, kurzes Lachen aus.
„Sie brauchen sich weder entschuldigen noch verlegen zu sein. Ich hätte sicher genauso gehandelt wie Sie. Aber ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie sich vorstellen.“
Vielleicht wurde ich noch röter, als ich schon war, als ich ihr meinen Namen nannte. Doch dann hatte ich mich gefangen. Mir gefiel ihre gerade Art und die Sprache, die sie sprach.
„Natürlich haben Sie recht mit Ihren Vermutungen. Ich gebe unumwunden zu, dass ich neugierig bin. Das gehört eben zu dem Beruf eines Schriftstellers.“
Sie hatte die Brille abgenommen, löste das Seidentuch aus dem Pferdeschwanz, schüttelte kurz den Kopf, so dass ihre Haare sich auf ihren Schultern ausbreiten konnten.
„Beim Lesen stören mich die Haare, Herr Köhler, oder darf ich Bernd sagen“, meinte sie ohne einen Anflug von Koketterie. Dann fuhr sie fort. „Ich darf Sie doch bei Ihrem Vornamen nennen. Ich heiße übrigens Katharina, Katharina Ulrich. Erzählen Sie mir ein wenig von sich.“
Ich hatte mich bereits an ihre direkte Art gewöhnt und so berichtete ich in aller gebotenen Kürze über meine Verhältnisse und dass ich nun schon seit einigen Jahren in einer schöpferischen Flaute steckte.
Aufmerksam hörte sie zu und musterte mich dabei interessiert. „Wir sind fast Kollegen, denn ich bin freie Journalistin und kenne durchaus auch Zeiten, in denen nichts zu laufen scheint. Vielleicht kann ich Ihnen ja mit der Geschichte, die Sie mit Recht hinter dem Mann auf dem Bild vermuten, eine kleine Anregung geben“,
Sie sah mich kurz an, lächelte ein wenig und da ich schwieg, fing sie an zu erzählen.

Das Sheraton Hotel in Bagdad war immer noch schwer gezeichnet von den vielen Einschlägen der Granaten des Kriegs. Und doch war es für ausländische Gäste einer der wenigen Orte in der geschundenen Stadt, in der sie relativ sichere Unterkunft finden konnten. Vor einigen Monaten hatte die Bevölkerung den Sturz des verhassten Diktators Saddam Hussein begeistert gefeiert und die siegreichen Amerikaner in den Straßen hoch leben lassen. Doch der Euphorie folgte bald Ernüchterung, denn nun begann der Krieg der verschiedenen Volksgruppen gegeneinander. Die schiitische Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte nicht, dass auch die neue Regierung immer noch sunnitisch dominiert war. Die Kurden im Norden des Landes sahen die Chance, ihre Autonomie auszubauen oder sich gar in einem unabhängigen Staat zu konstituieren, während die Al Khaida versuchte Einfluss zu gewinnen und die verhassten Amerikaner aus dem Land zu bomben. Und diese schließlich entpuppten sich oft genug nicht als Befreier, sondern als Besatzer, die auf der Jagd nach tatsächlichen oder vermeintlichen Terroristen immer wieder unschuldige Zivilisten erschossen. Die Lage war alles andere als befriedet und nicht viel besser als vor dem Krieg.

Katharina hatte sich auf ihre Mission gründlich vorbereitet. Der Spiegel hatte ihr einen Vorschuss und die Möglichkeit gewährt sich ein Bild von der unübersichtlichen Lage in dem Land zu machen.
Als sie den Taxifahrer bezahlt hatte und im Begriff war zur Rezeption zu gehen, trat ein großer, auffallend nach vorne gebeugter Mann auf sie zu. Er trug einen hellen Anzug und hatte einen Strohhut auf dem Kopf. Beim Lüften des Hutes kam sein dichtes schwarzes Haar zum Vorschein, das einen vorteilhaften Kontrast zu seiner hellen Kleidung bildete. In perfektem Deutsch sprach er sie an.
„Sind Sie Frau Ulrich? Mein Name ist Kai Keller. Der Spiegel hat mich gebeten, sie hier zu empfangen und zu unterstützen.“
Tatsächlich hatte Katharina in Deutschland den Hinweis erhalten, dass sie von einem  Kontaktmann am Hotel empfangen werden würde und so begrüßte sie ihn erfreut, überließ ihm gerne ihren Koffer und den Rucksack, den dieser dann dem herbeieilenden Pagen übergab und betrat mit ihm die Empfangshalle, um dort einzuchecken. Auch dort waren noch einige Folgen der Kriegshandlungen zu sehen. Aber die Lounge war gut besucht.
„Darf ich Sie zu einem kleinen Begrüßungsschluck an der Bar einladen? Ich werde mich nocheinmal überzeugen, dass Ihr Gepäck auf Ihr Zimmer gebracht wird.“
Katharina war einverstanden und setzte sich an die Bar, während Keller enteilte.
Nach einer Weile kam er zurück, setzte sich zu ihr. „Sie sind offensichtlich Deutscher“, meinte Sie und nippte an ihrem Longdrink.
„Wie haben Sie das denn erraten?“, entgegnete Keller und lachte. „sehe ich so deutsch aus oder haben Sie jemanden anders erwartet?“
„Stimmt, ich dachte, von einem einheimischen Kontaktmann begrüßt zu werden:“
„Betrachten Sie mich einfach als einheimisch. Ich bin schon mehr als zwanzig Jahre in diesem Land.“
„Wie kann man es so lange in diesem Land aushalten?“
„Nun, der Irak ist ein wunderbares Land. Manche sagen, hier wäre die Wiege der Kulturen. Ich bin Archäologe müssen Sie wissen und war jahrelang am staatlichen archäologischen Museum hier angestellt. Trotz der vielen Diebstähle von Kulturgütern der Europäer im 19. und auch 20. Jahrhundert beherbergte das Museum hier immer noch wertvolle Funde und Einzelstücke. Das Museum war traditionell unter deutscher Leitung nicht zuletzt, weil viele Deutsche maßgeblich bei den wichtigsten Ausgrabungen beteiligt waren.“
„Ja, ich weiß. Und dann wurde der Inhalt des Museums schon im iranisch- irakischen Krieg in einer Nacht und Nebelaktion sozusagen nach Deutschland ausgelagert. ...“
„Stimmt, Sie kennen sich scheinbar aus. Ja, das war Anfang der achtziger Jahre. Ich bin dann hier hängen geblieben in gewisser Weise als privater Nachlassverwalter des Wenigen, was noch der Rede wert war.“
„Trotz der Verhältnisse hier?“
„Nun, bei aller Perfidität, die dem Saddam – Regime anhing, so gab es doch zumindest für uns Ausländer eine gewisse Ordnung und Freizügigkeit. Zur Zeit des  Golfkriegs war Hussein sogar noch der Liebling der Amerikaner und des Westens. Sie hofierten ihn, weil er gegen den Iran zu Felde zog, während sie mit dem Irak blendende Geschäfte machten. Aber dieser verdammte Krieg hat alles auf den Kopf gestellt. Nichts von den erklärten Kriegszielen ist erreicht worden, der offizielle Grund, die Verhinderung des Einsatzes von Massenvernichtungswaffen hat sich als dreiste Lüge herausgestellt. Die regionale und geopolitische Lage hat sich dramatisch verschlechtert, der Westen und besonders die USA sind dabei, ihren Einfluss auf die Region komplett zu verlieren und Al Khaida lacht sich ins Fäustchen und wer weiß, vielleicht ist der flüchtige Saddam bald wieder mit neuen Verbündeten im Land.“
Keller war zum Schluss seiner Rede fast heftig geworden.
„Aber reden wir nicht von der Vergangenheit, reden wir von der Gegenwart, reden wir zum Beispiel von Ihnen und Ihren Absichten.“
„Gute Idee, obwohl meine Absichten mit einem Satz erklärt sind. Ich bin auf der Suche nach allen Arten von Informationen und Hintergründen der derzeitigen Situation und zwar möglichst aus erster Hand“.
„Etwas kleiner geht es bei Ihnen wohl nicht? Alle Arten von Informationen! Wollen Sie eine Doktorarbeit schreiben? Also entschuldigen Sie Frau Ulrich, Sie sollten schon die ein oder andere konkretere Vorstellung haben...!“
„Ist ja gut Kai, ich darf Sie doch so nennen? Und bitte nennen Sie mich Katharina. Natürlich will ich so viele Informationen wie möglich während meines Aufenthalts hier sammeln und dabei bin ich in der Tat nicht wählerisch. Auf der anderen Seite interessiert mich zum Beispiel brennend, warum man Hussein noch nicht gefunden hat oder was die Bevölkerung zur derzeitigen Entwicklung sagt, wie ihre Lebensverhältnisse sind und ganz besonders interessieren mich die Spannungen zwischen den Sunniten und den Schiiten.“
„Na also, das ist doch immerhin schon mal eine Ansage. Die letzten Punkte sind relativ leicht zu recherchieren. Die Frage wo Saddam steckt, ob er außer Landes hat fliehen können und eventuell eine fünfte Kolonne aufbaut, ist die 100.000 Dollar Frage, die nicht nur Sie gerne beantwortet haben wollen.“
Kai machte eine kurze Pause, bevor er fortfuhr. „Allerdings gibt es da eine nicht ganz unwichtige Kleinigkeit, die Ihr Vorhaben erschwert.“
„Und die wäre?“
„Sie“
„Wie Sie?“
„Sie sind eine Frau und Frauen hatten selbst unter  sozialistischen Bedingungen, die angeblich unter Saddam hier geherrscht haben, keinen leichten Stand. Die derzeit stark fundamentalistisch aufgeladene Situation macht es aber für sie noch schwerer, sich journalistisch zu betätigen.“
Katharina stieß ein leises Lachen hervor. „Machen Sie sich um mich nur keine Sorgen, ich weiß mich zu wehren.“
„Wenn Sie anfangen müssen sich zu wehren, ist es in der Regel bereits zu spät. Sie  wären nicht der erste Journalist der hier bei seiner Arbeit getötet wurde – aber vermutlich der erste weibliche.“
„Kai, es ist wirklich rührend, wie Sie um meine Sicherheit besorgt sind. Doch ich bin mir der Gefahren, die mich erwarten durchaus bewusst. Ganz so unbedarft oder naiv, wie Sie vielleicht meinen, bin ich nicht. Ich spreche recht ordentlich Arabisch und kenne mich in Bagdad ein wenig aus....“
„ … Ah, jetzt steckt die Katze ihren Kopf aus dem Sack. Da bin ich dann doch gespannt wie sie aussieht, wenn sie ganz draußen ist.“
Katharina lächelte ihn an, nahm ihren Longdrink und meinte. „Lassen Sie uns ein wenig auf die Terrasse gehen. Dort sind wir ungestörter.“
Bereitwillig folgte Kai ihr nach draußen. Der Lärm der Stadt drang nur verhalten in den Park vor ihnen. Kai zündete sich eine Zigarette an, nahm sie wieder aus dem Mund fragte, ob es sie störe, wenn er rauche und bot Katharina ebenfalls eine an, indem er sich wegen seiner Unhöflichkeit entschuldigte.
„Vielen Dank, jetzt nicht. Aber es stört mich auch nicht, wenn Sie rauchen. Was nun die Katze betrifft, so ist deren Geheimnis schnell erzählt. Mein Vater war Ägypter und zeitweise als Kulturattaché in Bagdad tätig. Ich habe ihn vor fünf Monaten das letzte Mal hier besucht. …
„... oh weh, eine nostalgic tour... das macht alles keineswegs leichter“
„Sie scheinen mir ein ausgemachter Pessimist zu sein, Kai. Aber bevor ich weiter von mir erzähle, fände ich es nur fair, auch von Ihnen etwas zu erfahren. Die zwanzig Jahre Bagdad machen mich neugierig.“
„Natürlich, kein Problem. Doch da ich annehme, dass sie nach dem Flug gerne etwas essen würden, schlage ich vor, dass wir an das Ufer des Tigris gehen und dort in einer der Fischbratereien ….“
„... einverstanden. Ich kenne die Bratereien. Dort wird der Masgruf am offenen Feuer geröstet...“
„... sie machen mich immer neugieriger. Ich bin gespannt, was sonst noch in dem Sack der Katze steckt.“

Vom Sheraton waren es nur einige hundert Meter bis zum Tigris. Sie nahmen trotzdem ein Taxi. „Geht schneller und ist vermutlich sicherer“, meinte Kai.
Die Uferstraße des Tigris war pompös angelegt, allerdings nicht so stark befahren, wie die innerstädtischen Straßen. Man merkte, dass das ein Viertel der vordem Wohlhabenden, der Diplomaten und der Ausländer der Stadt war. Der Tigris war nur als schwarzes breites Band zu erahnen, ab und zu durch die Lichterketten der verschiedenen Industriegebiete auf der anderen Seite beleuchtet, während diesseits unterhalb der Straße aber noch vor dem Deich eine Vielzahl von offenen Feuern flackerte.
Sie entschieden sich nach kurzem Suchen für eine Braterei, die nur wenig besucht war.
An einem großen Feuer steckten die aufgeklappten Fische senkrecht zum Feuer an kurzen Holzstecken. Die fertig gebratenen Fische wurden garniert mit Tomaten, grünem Salat, vielen Zwiebeln und Fladenbrot auf einfachen Brettern serviert.
Katharina hatte ihren Wunsch in fließendem Arabisch vorgetragen und dafür von dem Besitzer, der sie mit einem holperigen Englisch angesprochen hatte, einen erstaunten Blick erhalten.
„Sie sprechen gut Arabisch“, meinte er anerkennen.
„Das will ich hoffen. Schließlich bin ich halb arabisch. Doch nun zu Ihnen mein Herr“, fuhr sie an Kai gewendet fort. „Ich vermute, dass Sie nicht weniger der Landessprache mächtig sind als ich. Über alles Weitere werden Sie mich nun sicher aufklären.“
Kai hatte ihr lächelnd zugehört.
„Mit Vergnügen, insbesondere deshalb, weil uns offenbar eine ähnliche Biografie verbindet. Um es kurz zu machen. Die zwanzig Jahre Bagdad ergeben sich nicht nur aus meiner Arbeit und meiner Zuneigung zu dem Land. Meine Mutter lebte bis vor kurzem auch hier. Sie hatte in Deutschland bei einem Deutschstudium an einem Goetheinstitut meinen Vater kennengelernt. Die Verbindung hielt allerdings nicht lange und mein Vater hat sich auch wenig um mich gekümmert. Meine Mutter hat sich dann alleine mit mir als Dolmetscherin durchgeschlagen. Ich studierte Archäologie und als ich fertig war, meinte meine Mutter, nun sei es Zeit, Deutschland zu verlassen. Die Anstellung am Museum in Bagdad bekam ich auf Anhieb. Ja, und so bin ich halt hier hängengeblieben.“
Katharina hatte sich vorgebeugt und dann die Reste ihres Mahls ins Feuer geworfen. Im Schein der auflodernden Flammen sah sie ein Paar Ratten, die neugierig und mit leuchtend roten Augen von dem nahen Holzstoß zu den Gästen hinüberspähten.
„Lebten Sie bei ihrer Mutter?“
„Nein, ich habe ein eigenes Haus nicht weit vom Museum. Aber ich denke, jetzt ist die Fragestunde vorbei, wir sind quitt.“
Den letzten Satz unterstrich Kai, indem er sich genussvoll eine Zigarette anzündete  und den Rauch in den Nachthimmel stieß.
Die folgende Pause wurde jäh durch eine Detonation  unterbrochen.
„Das war vermutlich in der Nähe des Sheraton. Katharina, wir sind hier zwar sicher. Aber ich würde nicht empfehlen, zum Hotel zurückzukehren. Dort wird jetzt die Hölle los sein. Vermutlich war es wieder ein Autobombenanschlag oder ein Selbstmordattentat“, vermutete Kai. „Im näheren Umkreis des Hotels wird es für eine ganze Weile recht ungemütlich werden. Die Amerikaner sind bekannt für ihre extensive Art der Spurensicherung.“
Katharina sah ihn an, nahm ungefragt eine Zigarette aus Kais Etui, zündete diese mit gespielter Lässigkeit an und meinte dann. „ Na, dann werden Sie mich wohl diese Nacht in Ihrer Wohnung beherbergen müssen. Ich merke die Müdigkeit auf Grund der langen Reise.“



  
Sebastian geht fremd

Erzählung
von
Wolf Döhner








Die Ameise mühte sich redlich. Aber sie kam nur langsam voran durch das Gewirr der Haare auf dem Arm. Ich betrachtete sie mit einer Mischung aus Neugier und Widerwillen und überlegte, wie das kleine Tier wohl zu mir kommen konnte. Hatte es von dem Baum, über das Seil der Hängematte zu mir gefunden oder war es gar durch die Luft zu mir gelangt? Vielleicht war es auf einer der vielen Kiefernnadeln, die immer wieder durch die Lüfte segelten auf meiner Hängematte gelandet. Ich sah mich um, ob vielleicht noch mehr Ameisen im Anmarsch waren.
Die gestrige erste Begegnung mit diesen kleinen Quälgeistern hatte ich noch in sehr guter Erinnerung. Sie waren immer plötzlich da, woher sie auch kommen mochten. Wenn man auf den mit grobem Kalk gesplittertem Boden schaute, konnte man oft nur vereinzelte Exemplare erkennen.
Doch wenn sie irgend etwas gefunden hatte, dass verwertbar war, kamen sie in Massen. Und manchmal hatte man das Pech, sich gerade dorthin zu legen, wo sich solch eine Ansammlung befand. Sie waren viel kleiner als die Ameisen, die ich von zuhause her kannte und ihr Biss weit weniger schmerzhaft.

Gestern war ich also angekommen. Und nachdem das Zelt aufgebaut war, hatte ich mich in die Sonne gelegt, die Augen geschlossen, und mich wärmen lassen. So war ich wohl etwas eingenickt, als ich plötzlich ein merkwürdiges Kitzeln am ganzen Körper bemerkte.
Als ich die Augen öffnete, fand ich mich übersät von kleinen Ameisen. Ich sprang auf und versuchte mich von Ihnen zu befreien, indem ich herum hüpfte und bemüht war, mich mit einem Handtuch vom Schweiß mitsamt den Ameisen zu befreien. Das Krabbeln tat zwar nicht weh und   wirklich zubeißen konnten die Plager nicht. Es war wohl eher der Schreck, der mich so herum hüpfen ließ.
„Ist das nun Gymnastik oder ein neuer Tanz?“
Das war nun in meiner Lage eine eher abwegige Frage. Denn jeder konnte eigentlich sehen, in welcher Situation ich war. Und deshalb war die Frage wohl auch nicht ganz ernst gemeint, was ich auch gleich aus dem lachenden Gesicht der Fragerin entnehmen konnte.  
Ich bemerkte nämlich meine Nachbarin, die gerade aus ihrem Campingbus getreten war und sich amüsiert meine Verrenkungen ansah. Sie war nackt, so wie ich und alle  auf dem Campingplatz.
„Nein nein, ich bin nur noch nicht an diese Landplage gewohnt.“  
„Du kennst dich offensichtlich noch nicht aus hier. Die kleinen Biester sind ungefährlich aber lästig. Am besten ist, man reibt sich mit einem Insektenschutzmittel ein. Hier, nimm das, das wird zunächst helfen. Ich heiße übrigens Paulina. Aber du kannst mich Lina nennen. Die meisten duzen sich hier.“
Und damit reichte sie mir eine kleine Tube, die ich allerdings etwas verdutzt entgegennahm. Auf diese direkte Art der Kontaktaufnahme war ich nicht vorbereitet. Aber sie war mir auch nicht unangenehm.
„Ich heiße Sebastian. Aber alle sagen Basti zu mir. Du bist scheinbar schon länger hier und kennst dich mit den Eigenarten und Regeln der Örtlichkeit aus. Worauf sollte ich denn sonst noch achten?“
„Auf nichts, was nicht eigentlich sowieso auf der Hand liegt, zum Beispiel sich mit einem Sonnenschutzmittel einzureiben und es überhaupt mit dem Sonnenbad nicht zu übertreiben. Es weht zwar meist ein angenehmer Wind vom Meer. Aber die Sonne brennt gnadenlos und ein Sonnenbrand oder gar einen Sonnenstich kann man sich schnell holen.“
Wie zur Unterstützung ihrer Ausführung nahm sie einen Strohhut von der Zeltstange und setzte ihn auf. Das sah zwar auf ihren schwarzen Haaren ganz apart aus. Aber ich musste etwas lächeln,denn ihre Worte kamen mir etwas mütterlich daher. Mütterlich sah sie jedoch nicht aus. Ich schätzte sie vielleicht auf Anfang vierzig. Die nicht ganz zu verdeckenden Anzeichen von Falten um Mund und Augen deuteten darauf hin. Aber ihre Brüste waren noch voll und wohl geformt, genauso wie ihr wohl nicht nur von der Sonne schon recht gebräunter Körper. Sie legte offensichtlich Wert auf Styling und Körperbetonung, denn um ihren Bauchnabel wand sich das Tattoo einer Schlange, deren Schwanzspitze auf die schmalen Reste ihrer rasierten Schambehaarung wies und damit der ganzen Erscheinung den Ausdruck eines verführerischen Fragezeichens verlieh.
Es war durchaus nicht das erste Mal, dass ich mich auf einem FKK Platz befand. Im Gegenteil, die unbekleidete Art in der Natur zu sein gefällt mir - zumindest, wenn ich am Meer Urlaub mache. Der weitgehende Verzicht auf Kleidung und all der damit verbundenen Umständlichkeiten erzeugt in mir stets eine Art paradiesisches Gefühl, wozu in der Regel die äußeren Umstände den notwendigen Rahmen bieten.
Hinzu kommt, dass ich stets auf die kleineren, familiären  Plätze gehe, wo sich Anzeichen von Stand oder Reichtum der Camper allenfalls am Äußeren der Campingbusse oder Anhänger ablesen lassen. Aber sie spielen keine Rolle. Es herrscht stets eine erfrischende, wenn auch nur zeitweise Gleichheit zwischen den Menschen.
Vielleicht mit aus dem Grund habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Duzen, zumindest nach einer kurzen Phase des Kennenlernens sich oft ganz zwanglos ergibt.  
Linas Spontanität irritierte mich allerdings doch etwas und das nicht nur, weil sie mich geradezu mit ihrem Angebot überfiel, sondern auch wegen ihres Namens. Paulina, so heißt nämlich auch meine langjährige Freundin. Sie hat eine italienisch Mutter und lässt sich ebenfalls Lina nennen. Eigentlich war geplant, dass wir wie üblich zusammen Urlaub machten. Aber dann gab es kurz vor der Abreise eine Auseinandersetzung, die darin gipfelte, dass Lina das Haus verließ und mir beim Zuschlagen der Tür zurief, ich könne alleine fahren, so wolle sie mit mir keinen Urlaub verbringen. Ja, und nun war ich hier, alleine und in einem merkwürdigen Zustand von Trotz, Trauer und Erwartung.
Nachdenklich, fast etwas verlegen, gab ich Lina die Tube zurück.
„Vielen Dank für den Ratschlag. Ich bin allerdings nicht das erste Mal an den sonnenverwöhnten Stränden dieser Welt und deshalb ganz gut vorbereitet. Auf den Insektenschutz komme ich gerne noch zurück, aber ich brauche zunächst erst mal eine Abkühlung.“
Und während Lina meine Worte mit einem stummen Lächeln quittierte, ergriff ich mein Handtuch, schlenderte zum nahen Strand und warf mich ins Wasser.
Mit ein paar kräftigen Kraulschlägen verließ ich die fast Badewasser warme Strandzone, bis ich in kühleres Gewässer kam. Dann breitete ich Arme und Beine aus und überließ es dem Salzwasser, mich zu tragen, während ich meinen Gedanken nachhing.  
Wie konnte geschehen, was geschehen war, nach all den Jahren? Warum war ich alleine, ohne Lina?  Und warum war ich jetzt hier, alleine an dem Ort, den wir uns gemeinsam ausgesucht hatten? Freilich, der Platz war gebucht und musste folglich auch bezahlt werden, das war klar. Ich hatte vorsorglich zwar eine Reise-Rücktritts Versicherung abgeschlossen. Es wäre nicht schwer gewesen, von einem befreundeten Arzt einen Attest zu bekommen. Depressiver Erschöpfungszustand oder Hexenschuss. Und notfalls hätte ich sogar die ganze Buchung mitsamt der Folgekosten verfallen lassen können. Denn Urlaub allein war eigentlich nicht das, was ich mir vorstellen konnte und wollte.
Und doch war ich  gefahren, allein und keineswegs depressiv, sondern eher trotzig und mit der Absicht, einen schönen Urlaub zu verbringen. Und nun war da meine Nachbarinnen, die zufällig auch Lina hieß . Aber warum sollte sie nicht so heißen? Paulina ist ja kein so außergewöhnlicher Name, vielleicht etwas altmodisch. Und doch, was heißt denn zufällig? Ich musste an ein Gedicht denken, das ich vor langer Zeit einmal geschrieben hatte. Darin heißt es zum Schluss:  
Was auf uns fällt, kann doch nur fallen, weil wir da sind. Denn jeder Fall hat stets ein Ziel, sonst fiel er  nicht .

Ob Zufall oder nicht, Lina ließ mich nicht los, so oder so. Dabei war es nicht in erster Linie die Sinnlichkeit, die meine Nachbarin ausströmte. Es gehört zu den Annehmlichkeiten auf FKK Plätzen,dass Attraktivität, Sinnlichkeit oder einfach nur Schönheit dort eine eher untergeordnete Rolle spielen. Man registriert sie, aber sie führen in der Regel nicht zu dem bekannten Balzverhalten, das man sonst gemeinhin zwischen den Geschlechtern bemerken kann. Vielleicht liegt das wiederum auch daran, dass man Singles ausgesprochen selten auf diesen Plätzen findet. Ich war ohne Zweifel selbst eine solche Seltenheit.Und meine Nachbarin auch.Denn eine Begleitung hatte ich bis jetzt noch nicht bemerkt. Und auch die Tatsache, dass auf dem Fahrradständer am Bus nur ein Fahrrad montiert war, deutete darauf hin, dass sie allein unterwegs war.
Mit solchen Gedanken war ich gerade beschäftigt, als ich mit Verwunderung bemerkte, dass ich mit mir selber sprach. Oder besser, es schien so.




Nenne mich Basti! Ja ich weiß, das Entree klingt etwas nach Ideenklau. Aber in Zeiten der alternativen Fakten ist ein kleines Plagiat eine Art lässliche Sünde - sofern man es überhaupt bemerkt.
Wir leben in einer Welt, in der eine gut gefälschte Wahrheit eine echte als Fälschung enttarnen kann.
Die Jahrtausende alte Frage "Was ist Wahrheit?" wird heute beantwortet mit der Gegenfrage "Welche Wahrheit meinst du?" In weiten Kreisen unserer Gesellschaft wird zudem nur das als wahr begriffen, was man glauben will, womit der Begriff der Wahrheit vollständig korrumpiert wird.  
Natürlich weißt du das alles. Aber was du vielleicht nicht weißt ist, dass du selbst eine Art alternatives Faktum bist. Denn du existierst gar nicht wirklich, sondern nur in meinem Kopf.
Du wirst sicher heftig protestieren, denn du bist dir deines ganz eigenen Lebens sehr bewusst.
Und doch bist du mein Geschöpf. Ich habe dich erfunden, so sehr du auf deine Eigenständigkeit auch pochen magst. Denn ich erzähle diese Geschichte. Zu jeder Erzählung gehört aber auch ein Zuhörer, sonst machte sie keinen Sinn. Also ist es letztlich konsequent, auch den Zuhörer zu erfinden. Und deshalb erlaube ich mir, dir einen Namen zu geben. Ich werde dich Franc nennen. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist meine Schöpfung...

Wenn du mir so weit folgen konntest, muss ich dir noch eine weitere Ungeheuerlichkeit zumuten. Tatsächlich gebe ich nur vor, eine Geschichte zu erzählen. In Wirklichkeit entsteht die Geschichte erst dadurch, dass du mir zuhörst. Du bist der Wind, der die Samen der Erzählung auf fruchtbaren Boden weht, damit sie dort zu der Frucht werden kann, deren letztliche Gestalt mir immer unbekannt bleiben wird.

Du wirst einwenden, dass du nicht gewillt bist, dich von mir schaffen zu lassen und dass du nur aufhören bräuchtest, mir zuzuhören,um dem ganzen Spiel ein Ende zu setzen.  
Das stimmt zwar. Aber ich muss dich vor den Folgen warnen. Denn damit stirbt die Geschichte keinesfalls. Sie verharrt nur im Status nascendi und wartet darauf in einem anderen Zuhörer geboren zu werden. Für dich aber wäre es eine Art Selbstmord....

Ende der Leseprobe


Zurück zum Seiteninhalt