Unveröffentliche Projekte - Ver-dichtungen

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Unveröffentliche Projekte

Literarische Texte


Endes des Theaters
Leseprobe







Ulrich inszeniert ein Theater. Seine Frau Elke behauptet das jedenfalls. Allerdings ist es nicht wirklich seine Frau, sondern eine Emanation seiner Fantasie und seiner Erinnerung. Es sind die Fragen nach seinem und dem Leben seiner realen Elke, die ihn bewegen und die sich an den Besuch einer Theateraufführung fast nahtlos zu einer fantastischen Geschichte zusammenfügen.





Für Kathrin und Tobias




Copyright Wolf Döhner
wdoehner@web.de







Wie lange Ulrich schon so hin und her gegangen war, wusste er nicht. Die Zeit spielte auch keine Rolle. War er nicht eben gerade noch im Theater gewesen? Oder hatte er das geträumt? Die Bewegung des Sekundenzeigers an sich ist etwas völlig Sinnloses. Sie gibt vor die Zeit zu messen. Doch wenn sich nichts verändert, welchen Sinn macht dann noch die Zeitmessung?
Jeder Schritt war gleich. Zuerst über das nackte Linoleum mit dem dumpfen Klatschen der Schuhsohlen, dann der dämpfende Teppich, Drehung und zurück, zuerst der Teppich dann das Klatschen, unterbrochen von einer schleifenden Drehbewegung und dann das Gleiche von vorn. Waren es acht oder neun Schritte? Auch das egal. Der Tiger in seinem Käfig hat immerhin wenigstens noch die Gitterstäbe vor sich, die er fast liebkosend mit seinem Schweif streicht. Würde er die geöffnete Tür überhaupt wahrnehmen? Würde er hinausgehen und dann?
Wenn man sich etwas ganz fest wünscht, wird es Wirklichkeit, sagt man, einfach so.
Aber was ist, wenn die Wirklichkeit schon längst da ist und man sie nur nicht bemerkt?
Kann das Leben im Leben auch wieder verschwinden, falsch gewünscht, kein Anschluss unter dieser Nummer?

Aber das war ja alles Unsinn. Mochten seine Gedanken sich auch jagen wie ein Hund seinen eigenen Schwanz. Er wusste doch, dass sie in seinem Kopf waren. Sie waren hinein gekommen und fanden nun aus irgendeinem Grund nicht heraus. Er dachte an das Nashorn in einer Geschichte, dass zu lange dachte und zu spät losrannte. Aber er war kein Nashorn.
Und er wusste natürlich, wie die Gedanken in seinen Kopf gekommen waren. Schuld waren zwei Wörter gewesen, völlig banale zudem.

„Wie wars?“,hatte er gefragt. Das war selbstverständlich mehr als töricht gewesen. Denn es war er gewesen, der gerade aus dem Theater zurückgekommen, während Elke zu Hause geblieben war. Dantons Tod hatte sie nicht interessiert und mit ihm schon gleich gar nicht.

Merkwürdig dieser Danton. Er wehrt sich nicht, lässt sich hinrichten, weitsichtig schon das nahe Ende seiner Henker prognostizierend. Seine eigene Schuld und die Schuld der anderen lähmen ihn. So will er nicht leben. Aber er vibriert geradezu vor Leben.
Ja, er fühlte sich diesem Danton verwandt. Nicht, dass er ein Revolutionär gewesen wäre, eher ein Schwärmer, kein Demagoge, vielmehr ein Idealist, dem Danton durch seine Empörung über Unrecht verbunden, wohl wissend, dass er immer mitschuldig sein würde.
Was lähmte ihn also, dass er das Leben, das er in sich hatte einströmen lassen in der Stadt, im Theater, hier zu Hause nicht lebte, nicht leben konnte?

„Wie wars“? hatte er gefragt und damit eigentlich nur das gefragt, was sie hätte fragen können. Eine Art Übersprungshandlung. Eben hatte sie noch telefoniert. Ein lautes Lachen lag noch in der Luft. Jetzt sah sie ihn an. Jegliche Verbindlichkeit war aus ihrem Gesicht gewichen. Er hätte sich auf die Zunge beißen können. Was zum Teufel war diese Mauer zwischen ihnen? Sie war immer ganz plötzlich da. Wie ein Vorhang senkte sie sich auf sie herab, erstickte alles Lachen, alles Leben und stand dann zwischen ihnen, wie eine Wand durch die man sich zwar sehen aber nicht erreichen konnte.

„Ja, wie wars?“ fragte sie eher geschäftsmäßig. „Gut“, sagte er und war sich sofort im Klaren, dass er abermals etwas Verkehrtes gesagt hatte.
„Sehr informativ!“ schnaubte sie. „Waren die Mutschlers da, wer hat den Danton gespielt, was habt ihr in der Pause besprochen? Aber zu wem sag ich das überhaupt“.
Dann war die Türe zu und sie verschwunden.
Kommunikation nennt sie es, dachte er, und meint Gespräche. Als ob der Mensch nur über das Wort existierte. Und dabei hatte sie Angst, erbärmliche Angst.
Es war das Leben, das sie plagte. Und ihn fürchtete sie, weil er nicht so sprach, wie sie es wollte oder verstanden hätte. Und doch war er wehrlos.

„Danton, wach auf! Wehr dich! Warum bist du so passiv?“
"Ich wollte es mir bequem machen. Es widert mich an das alltägliche Geschrei. Ich will lieber guillotiniert werden, als selber guillotinieren lassen. Ich habe es satt. Wozu sollen wir Menschen untereinander kämpfen? Wir sollten nebeneinander sitzen und Ruhe haben“.

"Wie du dich selber wieder übertriffst Danton. Merkst du nicht wie du von zweiter Hand lebst, wie du dich täglich kastrierst? Es stimmt, Leben besteht nicht nur aus Worten. Worte ohne Leben sind wie Kaugummi. Sie werden zerquetscht und gekaut, hin und her geschoben – doch sie bewirken nichts weiter als das Trainieren der Kaumuskeln. Warum hast du vor den Worten Angst? Spuk das Kaugummi aus. So kann es wenigstens noch zu einem Stein des Anstoßes werden."

"Warum sollte ich Angst haben, Camille? Warum sollte ich mich fürchten? Ich liebe das Leben wie das Grab. Das Grab ist Ruhe. Ich liebe die Ruhe."

"Ruhe! Ruhe! Du trägst sie wie einen Bauchladen vor dir her und bietest sie an wie saures Bier. Aber wer will sie denn wirklich? Die Ruhe ist nur ein Götze der Freiheit, die du suchst. Die Statue der Freiheit aber muss jeder selber gießen und sich am Ofen die Finger verbrennen. Worauf wartest du? Stirb meinetwegen, wenn du willst. Aber wehr dich!"


Mit einem Ruck blieb Ulrich stehen. Waren das seine Gedanken oder sprach da wirklich jemand?
Es gibt Zustände im Leben, in denen Wünsche und Wirklichkeiten, Raum und Zeit, sowie Zukunft und Erinnerung verschmelzen zu neuen Wirklichkeiten. Vielleicht bewegen sich diese Wirklichkeiten aneinander vorbei wie Windzüge, die einfach gelegentlich eine fast offene Tür weiter öffnen, so dass man sie durchschreiten kann. Ulrich sah die Tür und trat ein.
Vor sich bemerkte er einen langen Gang an dessen Ende ein Bediensteter stand, der ihm eifrig zuwinkte.
„Kommen Sie, es hat gerade angefangen!“
Verblüfft folgte Ulrich der Aufforderung, ohne den leisesten Schimmer zu haben, was ihn erwartete. Der Mann schob einen schweren Samtvorhang beiseite und führte ihn zu einem freien Platz in einer Loge. Auf der Bühne vor ihm sah er Danton am Spieltisch. Er sprach mit einigen Deputierten über die Revolution.
Ulrich schaute sich um. Das Theater, in dem er sich befand war nicht das, welches er vor wenigen Stunden verlassen hatte. Da er den Inhalt des Dramas kannte, interessierte ihn mehr seine Umgebung. Die Leute waren gekleidet im Habitus des Fin de Siecle aber offensichtlich eher dem mittleren denn dem oberen Bürgertum zuzuordnen. Ihm war klar, dass er aus seiner Zeit gefallen war. Aber das beunruhigte ihn keineswegs. Er fühlte sich wie in einem Kino und was gespielt wurde, war eher nebensächlich.
„Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind“, hörte er plötzlich neben sich sagen.
Erst jetzt sah er seine Nachbarin genauer an. Sie hatte sich wieder zurück gelehnt und schien dem Geschehen auf der Bühne zu folgen.
Er aber war zum ersten Mal, seit er die Tür durchschritten hatte, auf das Höchste alarmiert. Denn neben sich erkannte er selbst im Halbdunkel des Theaters seine Frau Elke. Zumindest war sie es der Gestalt nach.
Sein erster Impuls war, sie zu fragen, warum sie hier sei. Aber er konnte sich gerade noch zurückhalten und sich erinnern, dass er offensichtlich in einer anderen Welt gelandet war.
Es fiel ihm nach dieser Erkenntnis nicht schwer in eine Rolle zu schlüpfen, von der er annahm, dass sie der Zeit und der Situation gemäß wäre.
„Ich hoffe, Sie verzeihen meine Verspätung. Wichtige Geschäfte hielten mich auf, Sie verstehen.“
Es war das Klischee einer Antwort. Aber die Frau neben ihm, schien die Erklärung zu akzeptieren.
In der Pause nahm seine Nachbarin wie selbstverständlich seinen Arm und begab sich mit ihm in die Lounge des Theaters.
„Ich nehme an, dass Sie über Ihre Geschäfte nicht sprechen wollen“, begann sie nach einer Weile die Konversation.
Ulrich versuchte sich in seine neue Rolle einzufühlen, wohl wissend, dass er sich auf dünnem Eis befand.
„Und ich nehme an, dass Sie mehr als genug über mich wissen, um diesen Punkt getrost aus unserer Konversation auszuklammern.“ Es war ein Blindschuss aber er hatte Erfolg.
Sie schenkte ihm ein verstehend, gewinnendes Lächeln und schwieg.
Das verschaffte ihm die Gelegenheit, sich neu zu orientieren und seine Situation zu überdenken.
Die Plakate, die er im Foyer gesehen hatte, klärten ihn auf, dass er Zeuge der Uraufführung von Büchners „Dantons Tod“ im Jahr 1902 war.
Ulrich versuchte in seinen Gedanken und Erinnerungen zu ergründen, auf welcher Spielebene er sich gerade befand.
Klar war, dass er im wahrsten Sinne des Wortes ausgetreten war aus seinen normalen
Erfahrungen und Beziehungen. Aber ebenso klar war, dass sich diese in einer neuen Konstellation nur umso eindringlicher zu einer Wirklichkeit formiert hatten, die es ihm keineswegs einfacher machte, darin zu agieren. Allerdings war diese Situation deutlich spannender als die, die er zuvor sein Leben nannte.
Denn anders als in seinem bisherigen Leben hatte er einen spürbaren Spaß an der Ungewissheit, die ihn umgab.
Es war das Gefühl einer neuen Erfahrung und fast der Gewissheit, dass alles möglich war. Kurz, er spürte, dass er lebte, obwohl dieses Gefühl ihm in der letzten Zeit ziemlich abhanden gekommen war.
Es schien Zeit, mit seiner Begleiterin in eine Konversation einzusteigen, zumindest um nicht unhöflich zu erscheinen aber auch,um eventuelle Näheres über seine neue Umwelt zu erfahren.
„Wie gefällt ihnen das Stück?“ Es war eine Frage mit den geringsten Möglichkeiten ins Fettnäpfchen zu treten.
„Soll ich Ihnen schmeicheln? Oder wollen Sie meine wirkliche Meinung?“
„Warum sollten Sie mir schmeicheln?“
„Nun, dem Regisseur eines Stückes, das gerade uraufgeführt wird, sagt man ja im Allgemeinen nicht gerade die gröbsten Gemeinheiten.“
Er stutzte. Wer der Regisseur der Aufführung war, wusste er gar nicht. Aber wer er war, wusste er. Und er war natürlich kein Regisseur. Trotzdem wollte er die Rolle, die ihm zugedacht war, doch so weit wie möglich ausfüllen. Und so flüchtete er sich in die Ironie, die ja bekanntlich immer mehrere Gesichter hat.
„Haben Sie etwa Angst, mit Ihrem Urteil daneben und damit in einer geschichtlichen Fehlinterpretation zu landen?“
Sie sah ihn von der Seite an und schenkte ihm ein Lächeln, das er aus verliebten Zeiten nur zu gut kannte.
„Es geht hier weniger um geschichtliche Interpretationen, als um Wirklichkeiten, die zu Geschichten werden.“
„Im Allgemeinen sind Dramen die Wiedergabe von Vergangenheit und in dem Stück, dessen Zeuge wir gerade sind wohl erst Recht.“
„Bester Freund, ich meinte nicht das Theaterstück, sondern das Stück Leben, dass Sie gerade selber inszenieren.“
Er musste wohl sehr irritiert ausgesehen haben. Denn seine Begleiterin lachte hellauf.
Ehe er sich jedoch gefangen hatte, läutete es zum Zeichen, dass die Vorstellung weiter ging.
„Aber kommen Sie. Den weiteren Verlauf ihrer Inszenierung wollen wir doch wohl nicht verpassen.“
Und damit nahm sie wieder seinen Arm, um sich mit ihm in ihre Loge zu begeben.
Während sie gemächlichen Schrittes zurück zu ihren Plätzen flanierten, kam es Ulrich vor, als kenne er einige der Zuschauer, die ihm auf dem Weg begegneten. Ja, er bemerkte sogar, wie er mehrfach offen oder diskret gegrüßt wurde, so wie man einen berühmten oder höher stehenden Mitmenschen auf sich aufmerksam macht, im Vertrauen, dass er sich erinnere, um dann von der Geste des Erkanntwerdens selber ein Stück des Glanzes des Mitmenschen zu erhaschen oder doch zumindest in seiner Umgebung darauf hinweisen zu können, in welch illusteren Kreisen man verkehrte.
Die Situation hatte etwas Unwirkliches, das in seltsamem Kontrast zu stehen schien zu der unwirklichen Lage, in der er sich gerade erst einzurichten begonnen hatte. Was meinte seine Begleiterin mit ihrem Hinweis, er inszeniere gerade ein Stück seines Leben? Bisher war er sich seines wirklichen Lebens eher als selbstverständliche Tatsache bewusst. Er lebte es mit all den üblichen Höhen und Tiefen, wobei die Tiefen gerade Überhand zu nehmen schienen. Eine Inszenierung war weder nötig, noch schien sie ihm möglich. War es nicht gerade umgekehrt, dass er mit seiner realen Elke in einer Inszenierung lebte, auf die beide keinen Einfluss zu haben schienen?
Ulrich fühlte sich erstmals, seit er hier war nicht ganz wohl in seiner Rolle. Einerseits war er eitel genug, sich über die Zeichen der Anerkennung oder gar Bewunderung zu freuen. Andererseits hatte er nicht den blassesten Schimmer, was hier gespielt wurde, wenn er einmal von dem Theaterstück auf der Bühne absah. Und nun diese mysteriöse Bewunderung oder Anerkennung. War es vielleicht gar keine? Waren es vielleicht eher Hinweise darauf, dass er sich nicht zu sehr von einer fiktiven anderen Wirklichkeit beeindrucken lassen sollte, eine die nur ablenkte von der realen Welt?
Und so sehr er vor wenigen Minuten noch die Vermischung seiner Welt mit einer anderen genossen hatte, so sehr fühlte er sich zunehmend in die Defensive gedrängt und von Fragen bedrängt, die er zumindest im Moment nicht beantworten konnte. Dabei spielten die große Ähnlichkeit seiner Begleiterin mit seiner Frau Elke, deren wutschnaubenden Abgang er noch gut in Erinnerung hatte und die offenen oder verstohlenen Begrüßungen durch bekannte Gesichter eher eine Nebenrolle.
Am meisten verunsicherte ihn nämlich die Aussage Elkes – und er hatte beschlossen, sie zumindest vorläufig so zu nennen – dass er gerade ein Stück seines Lebens inszenierte.

Auf der Bühne hörte er Danton
"Puppen sind wir, von unbekannten Gewalten am Draht gezogen,nichts, nichts wir selbst!
Die Schwerter, mit denen Geister kämpfen - man sieht nur die Hände nicht - wie im Märchen"

Ulrich war verwirrt. Irgendetwas stimmte nicht. Er hörte die Worte aber er sah Elke, seine Frau. Sie kam ihm entgegen. Ihre Augen strömten eine Kälte aus, wie ein Gletscherbach. Sie war nackt und umarmte ihn. Aber er spürte das Frösteln ihres Leibes. Er dachte an einen Wintermantel, den sie jetzt wohl eher gebraucht hätte.
"Komm zu Bett, mein Herz!"
Ich bin kein Wintermantel dachte Ulrich.
Auf der Bühne sah er Julie, die ihren Gatten tröstete, während sie zu Bett gingen.
Ja, irgendetwas stimmte nicht. Er war nicht Danton. Und mit dessen Todessehnsüchten konnte er sich erst recht nicht identifizieren. Er liebte das Leben. Aber im Gegensatz zu Danton, der das Leben genoss und nur aus Verzweiflung an dem Misslingen seiner Vision den Tod herbeiwünschte, war er am Anfang eines Berufslebens. Es war eher Elke, die mit dem Leben Schwierigkeiten hatte. Warum, das war eine der großen Fragen, die auch nach vielen Gesprächen mit ihr nicht geklärt werden konnten.
Und doch fühlte er sich dem Danton verbunden. Danton hatte eine Vision, für die er bereit war auch zu sterben, denn seine Vision passte nicht zur realen Wirklichkeit.
Ulrich hatte keine Vision, sondern allenfalls Wünsche an seine unmittelbare Zukunft. Und die waren recht banal. Er wollte ein einfaches, stressfreies Leben in einer Familie führen.
Vermutlich waren „stressfrei“ und „Familie“ schon Vorgaben, die nur schwer zu vereinen waren. Aber das wusste er bei seiner Eheschließung noch nicht und vielleicht hätte es ihn sogar nicht einmal von diesem Schritt abgehalten. Und genau da fühlte er eine Art Verbindung zu Danton, die sich in merkwürdiger Weise mit seiner derzeitigen Lebenslage verband. Wollte Danton nicht auch genau das, ein stressfreies Leben genießen?


Ende der Leseprobe

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